Eva Ruth Wemme

Alles bloß Sprache
Berlin, Januar 2016

Bei der Herstellung eines Dokumentarfilms dolmetschen, dachte ich, da geht es um das Ideal von Wahrheit, den Traum von Wirklichkeit, aha. Ich werde also ganz präzise und wirklichkeitsbeteurnd dolmetschen, dann geht es auch noch um Roma, das wird wieder so eine Gradwanderung. Denn so sehr die Deutschen auch Vielseitigkeitsliebhaber sind, dauernd reisen, Sprachen lernen, sich interessieren, auch politisch umdenken können und Wahres und Gutes und Schönes ganz klar als verhandelbar einschätzen, so sehr fallen diese modernen, individualistischen Leute zurück in alte, vor-moderne Konzepte, sobald es um Roma geht. Plötzlich ist man sich wieder sicher, weiß etwas ganz genau, fürchtet sich partout, träumt Alpträume.

Als Übersetzerin zwischen Roma und Gadsche stemmt sich für gewöhnlich die Angst - im schlimmsten Falle beider Seiten - gegen mich, da braucht man einen guten Stand. Zwei treffen zusammen, die sich nicht nur sprachlich nicht verstehen, sondern auch sonst nicht an ein grundlegend mögliches Verständnis glauben. Da hängt dieser Glaube in der verwildernden Idee von Fremdheit fest und hofft, dass meine Übersetzung die Fremdheit zähmen kann. Dazu kommt, dass immer ignoriert wird, dass ich nicht Romanes, sondern nur Rumänisch spreche. Ich berühre die „echte Welt“ der „anderen“ nicht einmal mit dem Sprachzentrum meines Gehirns. Das normale Theater.

Bei der Arbeit mit Philip und Colorado stemmte sich nichts gegen mich, ungewöhnlich, ich geriet ins Wanken. Fast fühlte ich mich überflüssig, nichts schmerzte beim sprechen. Es gab keine kulturellen Vorstellungen oder Träume zum mitdolmetschen.

Philip und Colorado begegneten sich in einer Welt, in der die Referenzpunkte selbstgeschaffen waren. Sie verstanden sich, nur die Wörter des jeweils anderen waren ihnen nicht geläufig. Eine handwerkliche Sache für mich. Und dazu: Wenn sie sich - jenseits der Sprache - nicht verstanden, war das ihrer Meinung nach im Rahmen des zu Erwartenden, Menschen können sich nicht durchschauen wie Glasscherben.
Im Land von Philip und Colorado gab und gibt es außerdem noch eine vierte Sprache, ihre selbst erfundene lingua franca, die ich als Dolmetscherin nicht einmal beherrsche. Im Film ist sie manchmal zu hören, ein irres Quasispanisch. Verständnisherstellen - das war nicht meine Aufgabe. Was dann?

Dieses „Land“, das der Film zeigt, fällt in unseres. Und selbst ich erschrecke, da ich - nachdem das Licht auf der Leinwand erloschen ist - merke, dass nichts von dem in diesem Film zu sehen ist, was anfangs zu erwarten gewesen wäre. Er zeigt nicht die Welt, in der Romafilme diese und jene Funktion haben, er ist keine praktische soziale Geste. Es ist ein unkindliches Land, jenseits von Mythen, Urteilen, Wahrheiten, seine Welt zerbricht dauernd, er ist gar keine Welt…
… alles bloß Sprache - oder eben Filmsprache. Das Wahre, Gute, Schöne: nichts, als zu übersetzende Wörter. Und Philip und Colorado machen einen Vorschlag, wie mit dieser Tatsache umzugehen wäre, spielerisch, frei, „un“moralisch, menschlich, musikalisch, verantwortlich. Auch ich musste damit umgehen, in meiner Arbeit gelangte ich über die grobe Grundannahme hinaus, Sprache sei entweder verständlich oder unverständlich, sie war einfach vorhanden, ich kam ab von der praktischen, tantenhaften Beschäftigung des wissenden Dolmetschens und Übersetzens. Auch ich wusste plötzlich nicht mehr „mehr“ als meine Arbeitgeber. Übersetzerin sein unter dieser Voraussetzung, das war neu zu überdenken:
Ich war jetzt eine Materialumwandlerin.

Und dann hatte ich plötzlich Colorados Tagebuch auf dem Schreibtisch, verletzliche Texte, ich übersetzte, überließ die von mir übersetzen, vollkommen nackten Wörter einem immer organischer werdenden Prozess, irgendetwas nahm Gestalt an, zerlief, wurde gesucht, nie gefasst, es knirschte, es sang, dann plötzlich war etwas da und schien zu atmen, wunderlich.

Als wäre der erste Arbeitstag bezeichnend für alle folgenden: Ich dolmetsche bei der Geburt von Colorados Großneffen. Fast metaphorisch. Ein „Auf-die-Welt-ins-Leben-Übersetzen“. Eine Position, die ich bei der Arbeit an diesem Film immer selbstverständlicher einnahm: eingeweiht über das, was kommen würde, über Pläne und den Fortgang, ermutigend, schweigend in den Wehen, dann mit-atmend, mit-wartend und am Ende mich zurückziehend im Moment nach der Geburt, glücklich, diesen Prozess nicht nur intellektuell sondern auch physisch miterlebt zu haben.

Fremdworte sind der Titel - jedenfalls für uns Gadsche (Nichtroma). Das ist gut. Sie sind leer. Parizan wird sie uns vorsingen. Das reicht.